Interview & Buchbesprechnung

Satanische Welten

Rituelle Gewalt, destruktive Kulte, organisierte sexuelle Ausbeutung von Kindern: Ein Gespräch mit Traumaexpertin Michaela Huber* über Folgen und nötige Hilfen für Opfer – und Täter.
Es ist eine Parallelwelt voll unglaublicher Grausamkeiten: Organisierte sexuelle Ausbeutung und sadistische rituelle Gewalt ist in ihrer Dimension unter Fachleuten umstritten und in der Öffentlichkeit wenig bekannt. Eine polizeiliche Verfolgung der Täter gestaltet sich schwer bis unmöglich. Die psychotherapeutische Behandlung der komplexen Traumafolge-Störungen ist äußerst langwierig. Führende Expertin auf dem Gebiet ist die Trauma-Therapeutin Michaela Huber. Anke Hinrichs sprach mit ihr über Verbreitung und Behandlung von Opfern – und Tätern.

Dr. Bern CarriereGeschlagen und missbraucht: In dem Hannover-„Tatort“ „Das Wegwerfmädchen“ wurde das Leid von Zwangsprostituierten aus dem Osten thematisiert. Im Film müssen die Opfer für einen Herrenabend Opernkostüme tragen und werden nach Gebrauch entsorgt. Eines der Mädchen wird tot auf einem Müllplatz gefunden. Foto: NDR/Gordon Muehle

EPPENDORFER: Was genau ist unter ritueller Gewalt zu verstehen?

MICHAELA HUBER: Es geht um schwerste Formen von Sadismus und Folter, um Misshandlung, die auf zeremonielle Weise stattfindet und in bestimmte Regeln eingebunden wird. Ansteigend ist in diesem Zusammenhang vor allem der Bereich der systematischen Ausbeutung von Kindern. Schätzungen gehen von circa zwei Millionen sexualisiert gequälten und im Netz abgebildeten Kindern weltweit aus, von denen einige für rituelle Gewaltveranstaltungen missbraucht werden. Dabei werden bevorzugt solche Kinder ausgewählt, die aus Missbrauchsfamilien stammen, in denen sich das Thema bereits seit Generationen wiederholt.
Es gibt hier einen modernen Sklavenmarkt. Da werden Kinder wie Pizzen frei Haus zu Partys geliefert. Der Zulieferbetrieb wird von Geschäftsleuten organisiert, die sich dann auch um die „Entsor- gung“ kümmern. Ein Teil der Szene sadistischer Gewalt spielt sich in destruktiven Kulten ab. Da gibt es Hardcore-Sadismus mit Verkleidung und bestimmten Regeln, wann die Opfer reihum vergewaltigt und auch verletzt werden dürfen. Auch werden die Opfer gezwungen, anderen schlimme Dinge anzutun. Die Opfer, die man wieder benutzen will, werden über Trainings und spezielle Foltermethoden abgerichtet. Dazu zählen wegsperren, hungern und dursten lassen, lebendig begraben; Elektroschocks bis zu erzwungenem Kannibalismus in Kombination mit Psychoterror. Ziel der Abrichtung ist es, dass sie sich an das strikte Schweigegebot halten und gehorchen – z.B. auf bestimmte Signale wie Telefonklingeln hin sofort reagieren, etwa sich anziehen, vor die Tür gehen und ins Auto steigen, das sie dann zu ihren Misshandlern bringt.

EPPENDORFER: Sie selbst haben rund 300 Opfer mit komplexen Traumata psychotherapeutisch begleitet, sagen sie. Wie kann man als Therapeutin mit einem solchen Extrembereich umgehen – wo lassen Sie solche Geschichten und Schilderungen?

HUBER: Ich mache es genauso wie wir es den Patienten empfehlen: Ich packe die Horrorszenen klein zusammengefaltet in einen mentalen Tresor. Oder ich laufe oder gehe schwimmen und lasse es im Wasser. Jedenfalls so gut es geht. Manches geht einem natürlich doch nach. Dann helfen mir Gespräche mit Kolleginnen und das Gefühl, in meinem Entsetzen und Kummer nicht allein zu sein.

EPPENDORFER: Woran können Sie die Wahrheit der Schilderungen erkennen?

HUBER: An den Qualen und den körperlichen Schmerzen, die die Patienten haben, wenn sie über einen längeren Zeitraum ein Puzzlestück nach dem anderen für sich zusammentragen. Man kann viel denken und reden, aber die heftigen Gefühle und die entsprechenden Körpersymptome sind das, was uns einen Eindruck davon gibt, ob eine Geschichte wohl glaubwürdig ist oder nicht.
Mitunter merkt man es auch an Details. Wenn jemand Zeuge wurde, wie jemand zu Tode gequält wurde und dabei die genauen physiologischen Reaktionen des Opfers zum Beispiel beschrieben werden, ist das ein starker Hinweis auf Echtheit der Schilderung.

EPPENDORFER: Wie verbreitet mögen denn solche Extremformen sadistischer Gewalt sein?

HUBER: Wir haben in mehreren Bundesländern eine Umfrage unter allen niedergelassenen Kassenpsychotherapeuten gemacht. 11 bis 15 Prozent gaben an, mit der Thematik befasst zu sein und die Schilderungen ihrer Patienten für weitestgehend glaubwürdig zu halten. Manche Opfer landen mit Würgemalen oder anderen Spuren sexueller Folter oder gar Verstümmelungen in Kliniken. Vieles endet als Körperverletzung mit Todesfolge oder Suizid. Oder das Kind, die Jugendliche, die Frau bleibt verschwunden, wie jedes Jahr rund 600 andere Menschen allein in Deutschland. Es gibt aber auch viel „Traficking“, also Transfer von Opfern über Landesgrenzen.
Es sind weit mehr Betroffene, als wir uns vermutlich vorstellen können, aber in exakte Zahlen fassen lässt sich das nicht.

EPPENDORFER: Was sagt die Polizei zu dem Ganzen?

HUBER: Das kommt darauf an, wen man fragt und wie man fragt. In der Regel weiß ein Polizist nicht, was rituelle Gewalt ist. Aber wenn man von Rotlicht-Kriminalität, von sadistischer Gewalt, sexueller Folter, Hardcore-Pornos und extremen, folterähnlichen Quälereien spricht, sagt jeder: klar, kenne ich. Ich habe schon Polizisten geschult und Sonderkommissionen beraten und immer heißt es: Wir glauben es, aber wir können es nicht beweisen. Das Ganze läuft unter hoher Geheimhaltung ab, und es können keine V-Leute in diese Ringe eingeschleust werden, weil man schon im äußeren Bereich, als Kunde, bereit sein muss, Kinder zu vergewaltigen.

EPPENDORFER: Was ist mit den Opfern, mit Anzeigen?

HUBER: Es gibt dutzende von Anzeigen und Selbstanzeigen Betroffener; etliche schwebende Verfahren. Aber Opfer organisierter sexueller Ausbeutung sind generell unendlich schwer dazu zu bringen, auszusagen. Außerdem sind viele so dissoziativ, dass sie kaum kohärente Aussagen machen können. Aber die meisten wollen auf keinen Fall anzeigen. Viele werden in dem Horror groß und sind mit schwersten körperlichen und seelischen Problemen behaftet. Die tun sich lieber selbst was an. Sind sie gesundet, wollen sie nicht mehr aussagen, sondern einfach nur in Frieden leben. Alle haben sie Todesangst, und oft werden sie auch mit dem Tod von Angehörigen bedroht. Das Schweigegebot ist das schwierigste. Und die Täterbindung. Die wirkt bis in die Therapie fort. Es kommt vor, dass ein Opfer in einer Hilfeeinrichtung lebt und betreut wird und trotzdem in die Szene zurückkehrt. Da stehen dann plötzlich Autos mit dunkel getönten Scheiben vor der Tür, in die die Patienten einsteigen, um für ein Wochenende zu verschwinden – um dann mehr oder weniger schwer verletzt und ziemlich durch den Wind zurückzukehren. Aber Anzeigen stellen wollen sie auf keinen Fall.
Daher wissen wir Helfer sehr viel mehr als die Polizei, weil wir die Betroffenen und Überlebenden sehen und behandeln – auch die, die niemals zur Polizei gehen. Manche auch deshalb nicht, weil sie Täter bei der Polizei kennen...
Was wir Betroffenen raten ist, Aussagen als Bestandteil ihres Testaments mit genauen Angaben – wer was wann wo gemacht hat – und mit Datum versehen beim Notar zu hinterlegen. Dann kann in einem späteren Fall nicht behauptet werden, das hat er oder sie gestern in der Zeitung gelesen.

EPPENDORFER: Wie steht es um Resilienz, was hilft Betroffenen während ihrer Zeit als Opfer, fortgesetzten schwersten Missbrauch oder Misshandlung besser zu überstehen?

HUBER: Es gibt Resilienz, wenn irgendwo in der nahen Umgebung jemand da war, der gut zu dem Kind war und für Stabilität und kontinuierliche Unterstützung gesorgt hat. Das kann eine Oma sein, eine Nachbarin oder auch ein Lehrer. Ein solcher Mensch da außen verhilft auch innerlich zu mehr Selbstfürsorge und Distanz zu den Tätern. Es hilft Opfern bei der Wahrnehmung, dass die Täter Feinde sind.
Und abspalten hilft. Wer mehr spalten kann, kann sich häufig auch mehr vor Gefühls-Überflutung retten. Das geht bis ins höhere Erwachsenenleben. Ich kenne hochfunktionale Ärzte und Manager, die zu Hause förmlich auseinander fallen, als Messie leben oder sich selbst verletzen.

EPPENDORFER: Warum ist das Thema multiple Persönlichkeiten so umstritten?

HUBER: Erst einmal: Nicht alle Opfer extremer Gewalt werden multiple Persönlichkeiten, also zu Menschen, deren Identität nicht zu einer Vorstellung von einem einzigen Selbst zusammengewachsen ist. Aber was diese angeht: Wir gehen von durchgängigen Bewusstseins-Strömen aus und wollen uns gar nicht vorstellen, wie es ist, innerlich in Parallelwelten zu leben bzw. leben zu können. Es ist schlicht nicht vorstellbar, dass eine Bankangestellte sich parallel prostituiert oder zwangsprostituiert wird und sich nicht daran erinnern kann, wenn sie hinter dem Bankschalter steht.

EPPENDORFER: Eine Therapie hat gute Erfolgsaussichten sagen sie – aber nur unter bestimmten Voraussetzungen.

HUBER: Ja, das wichtigste ist, ausreichend Zeit zu haben. Es dauert sehr lange, mit solchen Menschen, die so häufig verraten und gequält wurden, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Und erst dann, wenn ausreichend Alltagsstabilität und Vertrauen gewonnen ist, kann auf einer Art innerer Bühne die Arbeit begonnen werden. Dabei geht es darum, das Alltags-Ich mit den anderen Bereichen der Persönlichkeit vertraut zu machen, die traumatische Erfahrungen hüten, und diese Persönlichkeits-Anteile zu trösten und zu versorgen, sodass sie dadurch integriert werden können. Das braucht oft viele Jahre. Und manche, die sich vorher als „wir“ bezeichnet haben, können dann am Ende tatsächlich „ich“ sagen. Der Standard für eine solche ambulante Behandlung liegt bei mindestens 300 bis 500 Stunden. Aber das ist in Krankenkassen-Behandlungsrichtlinien so nicht vorgesehen, sodass die Therapeuten, die nicht die Behandlung nach den normalerweise üblichen 80 Stunden abbrechen wollen, gezwungen sind, mit wenigen Überbrückungs-Stunden zu helfen, die von der Kasse bezahlt werden, oder die Patienten wegzuschicken – oder unterhalb ihres normalen Honorars zu arbeiten, da die meisten Patienten mit diesen schweren Stress-Schäden über kaum finanzielle Ressourcen verfügen. Manchen hilft das Versorgungsamt über das Opferentschädigungs-Gesetz, aber für den Antrag müssen viele Angaben gemacht werden, was die Betroffenen wiederum unter Druck setzt, weil ihnen das unter Todesdrohungen auferlegte Schweigegebot lange zu schaffen macht.
Abgesehen davon gibt es mindestens ein Jahr Wartezeit auf einen Platz bei einer spezialisierten Traumatherapeutin. Die komplexen Traumata und der ganze Bereich früher, schwerer traumatischer Stresserfahrungen erzeugt höchste Not und hat keine Lobby – und kostet in der Folge viel Geld durch Klinikaufenthalte und Betreuungskosten. Auch vor diesem Hintergrund müsste es viel mehr und v.a. mehr frühzeitige Hilfen geben.

EPPENDORFER: Was kann oder sollte mit den Tätern getan werden?

HUBER: Wenn jemand sagt, er will es nie wieder tun, kann man gucken, ob man mit ihm arbeiten kann. Dann müssen wir ihm die Hand hinstrecken und sagen: Du kannst Deine Impulse zum Bösen lernen, unter Kontrolle zu bringen. Das in die Tiefe gehen und das Erkennen, was die eigene Tat für andere bedeutet hat, tut richtig weh. So tief wollen viele nicht gehen. Aber oft reicht das Arbeiten an der Verhaltens- bzw. Impulskontrolle. Wieder gut zu machen sind die Taten nicht, aber man kann die aufgeladene Schuld vielleicht kompensieren, mit Geld oder ehrenamtlicher Tätigkeit.
Der Großteil der Täter jedoch leugnet – und macht weiter. Die Belohnung, Macht über andere zu bekommen, ist zu groß. Und wer selbst Gewalt erlebt hat, für den ist es sehr attraktiv, später selbst in die Rolle des Täters zu gehen und die Machtverhältnisse umzudrehen. Auch deshalb ist frühe Hilfe so nötig.

EPPENDORFER: Ist es für eine Psychotherapie hilfreich, wenn Therapeuten in ihrer Vergangenheit selbst schwere Traumata erlitten haben?

HUBER: Ja sehr! Aber nur, wenn man sich genügend mit sich selbst beschäftigt hat und sich die eigene Geschichte immer wieder anguckt. Es hat keinen Zweck zu denken, irgendwann bin ich nur noch für andere da und kann so mein eigenes Leid vergessen. Die Klienten führen einen immer wieder an die eigenen wunden Punkte. Und wenn man an der eigenen Geschichte gereift ist und das rüber kommt, hilft es sehr. Die Betroffenen spüren, dass sie im Anderen etwas finden und dass diesem das tiefe Leid vertraut ist.
In der Tat haben viele Trauma-Therapeuten als Kinder selbst eigenes Leid durchgemacht.

— Anke Hinrichs, Originalveröffentlichung Juli/August 2012

Der Feind im Inneren

In ihrem neuen Buch verknüpft Michaela Huber Informationen über Psychotherapie mit Schwersttraumatisierten mit engagierter Gesellschaftskritik

Das besondere an dem Buch? Dass die Autorin so engagiert und sozialkritisch Partei nimmt, nicht nur für die Opfer, sondern auch für eine politische Haltung und Engagement in einer Gesellschaft, der sie radikal auf den bequemen Wohlstandspelz rückt. Dass es so gut lesbar ist, was daran liegt, dass die Autorin von 1978 bis 1983 Redakteurin bei der Zeitschrift „Psychologie heute“ war. Und schließlich, auch das bis heute leider unüblich: Sie outet ihre ganz persönliche Verbindung zum Thema, gibt Einblick in den Frauenhaushalt mit harter Großmutter und überforderter Mutter, in dem sie aufwuchs – mit entsprechenden auch über die Generationen hinweg reichenden traumatischen Elementen, mit Kriegs-, aber auch Heimerlebnissen im Hintergrund.
Das alles und noch viel mehr also bietet Michaela Huber in ihrem aktuellen Buch, einer Mischung aus eigenen Texten, in denen sie zahlreiche Studien verarbeitet, sowie Interviews mit zahlreichen Fachkollegen und -kolleginnen sowie Betroffenen. „Der Feind im Innern – Psychotherapie mit Täterintrojekten“ handelt von der inneren Verbindung zwischen Opfern und Tätern, von innen und außen, von Mensch und Gesellschaft. Es geht darum, wie eben alles mit allem zusammenhängt.
Entsprechend plädiert sie leidenschaftlich für Grenzüberschreitung im positiven Sinne: für ein grenzübergreifendes Denken nämlich, bei dem auch die Zusammenhänge zwischen Tätern und Opfern verinnerlicht werden – statt z.B. Täter- und Opfertherapien gegeneinander auszuspielen.
Im Fokus des über 300 Seiten starken Buches stehen schwerste Bindungs- und Gewalttraumatisierungen und „Täterintrojekte“. Letzteres meint gewalttätiges Denken, Handeln und Fühlen des Täters, das das gequälte Kind offenbar verinnerlicht, sozusagen als Ausweg, um Bindung aufrechtzuerhalten, so Huber. Andere sprechen auch von täterimitierenden Anteilen. Wenn massiver traumatischer Stress zu Dissoziationen führt, übernimmt ein Persönlichkeitsanteil innerlich den Täter. Letzteres ist auch der Schlüssel auf die Frage, wie aus Opfern Täter werden. Michaela Huber plädiert auch deshalb so engagiert für eine intensive Therapie mit den Opfern, damit sie diese „Täterintrojekte“ nicht selbst zu Tätern werden lassen.
Wie wenig innen und außen, das Ich und die Welt zu trennen sind, macht auch ihre dezidierte Gesellschaftskritik deutlich. Huber beschreibt u.a. eine oft versagende Kleinfamilienerziehung, immer mehr Kinder und Erwachsene, die verwahrlosen und Hilfe benötigen würden. In einem Land, das Feinde ins außen verlagere und Kriege exportiere – per Waffenhandel, an die Börse (ein Krieg, geführt von testosterongeschwängerten Männern) – während die Spieleindustrie dafür sorgt, dass Gehirne massenhaft mit Brutalität überschwemmt werden. Während in den Entscheiderkreisen, die all dies lenken und produzieren, gehäuft Menschen sitzen, die – wortgewandt, skrupellos, egozentrisch, narzisstisch – fast sämtliche Kriterien für eine antisoziale Persönlichkeit erfüllen, so Huber mit Verweis auf Psychopathenforscher Robert Hare. Ist es vielleicht oft nur der schmale Grat der Intelligenz, der zwischen gesellschaftlicher Einordnung in gesund und krank trennt?
Das alles in einem Land im Wandel, mit empfindlicher gewordenen Menschen, beschreibt Huber weiter, die immer öfter Therapeuten aufsuchen. In dem aber die schwer Traumatisierten allzu leicht durchs Raster eines ökonomisierten Gesundheitswesens fallen – was letztlich viel höhere Kosten verursacht – und in dem es vor allem an frühen Hilfen fehlt.
Evidenzbasierte Medizin bei Psychotherapie kritisiert Huber als Gleichmacherei, wo doch nur 15 Prozent von der Methode abhänge, aber fast alles von der Beziehung. Und vom Therapeuten und seiner Begeisterung, seiner Bereitschaft, sich einzulassen oder abzuwarten, von Herzensbildung.
Huber ruft auf, Abschied zu nehmen von einem hermetisch abgeschlossenen Welt- und Persönlichkeitsbild, plädiert für mehr und v.a. langfristige Traumatherapien. Stellt das Konzept der Aufteilung in vernünftige rationale Menschen auf der einen und Verrückte und Kranke auf der anderen Seite infrage. Was ist, fragt sie, „wenn unsere Gesellschaft in vielen ihrer Strukturen verrückt und krank ist“ und Menschen darauf mit der von der Natur vorgesehenen natürlichsten Form reagieren würden: mit Kampf-, Flucht-, Erstarrungs- oder Unterwerfungzuständen, die man Dissoziation nennt. Die Autorin verharrt aber nicht in Kritik, sondern wirbt engagiert für eigenes, aktives Engagement für ein besseres Sozial- und Gesundheitssystem und für Solidarität.
Alles in allem: Kein trocken wissenschaftliches, aber wissenschaftlich fundiertes Buch, das angesichts des so schweren Themas erstaunlich herzhaft, mitreißend, motivierend und lebendig ausfällt – und sehr zu empfehlen ist!

— Anke Hinrichs